Dschungelkreuzfahrt
Gisbert U. (58), Testtourist aus Irxleben:
Ich sag’s gleich, wie’s ist: Tourismus interessiert mich nur, wenn ich was machen kann, was bisher noch keiner gemacht hat. Nur wenn du als Erster auf die Wilden triffst, begegnen sie dir authentisch. Gehörst du zu den Zweiten, wissen sie schon, dass du Schusswerkzeug hast, ihre Frauen vögeln willst, tödliche Viren und wertvolle Euros mit dir trägst.
Vasco da Gama, Simon Bolivar, Ibn Battuta, Francis Drake, von mir aus noch Humboldt, das waren richtige Reisende, alles nachher war Kokolores. Okay, heute tust du dich schwer, wirklich was Unberührtes zu finden oder etwas zuerst zu tun. Aber du kannst zumindest eine derangierte Großstadt in Russland besuchen oder eine Erstbesteigung in Grönland (durch die Erderwärmung bald das neue Australien) machen.
Als ich gehört habe, dass das Travelmag Heimweh Testtouristen für neue Reiseformen sucht, hab ich keine Sekunde gezögert und meinen Beruf als Garderobenverleiher an den Nagel gehängt. Erste Testreise: „Dschungelkreuzfahrt durch die Ausläufer des Amazonas" in Ecuador. Gut, ich habe gleich gewusst, dass „Kreuzfahrt“ nur ein billiges Verkaufsding ist, wobei du woanders kaum soviel kreuz und quer kriegen wirst. Dazu freilich ungezählte Auf und Abs und Raus und Reins mit dem Boot. Am treffendsten wäre „mit dem Amphibienboot eine Schneise durch den Urwald schlagen“, aber so heißt freilich keine Reise.
Jedenfalls kann man sich so ein Amphibienboot vorstellen wie einen Leichtbaupanzer: ein Aluminiumrumpf auf einem Raupenfahrwerk, fünf Meter lang, drei Meter breit, einen hoch; Dieselmotor, Hydraulikantrieb, fürs Land sog. Schneckengetriebe und Zahnradpumpe. Die Eingeborenen waren bei dem Anblick natürlich hin und weg, denn mit ihren primitiven Holzstammbooten kommen sie bestenfalls um einen Baumstamm herum; ein Amphibienboot dagegen ist wie ein Eisbrecher, nur für Holz und Grünzeug.
Zur Reisegeschwindigkeit muss ich gleich sagen: Reiseschiffe und -boote sind ja grundsätzlich lahm wie ein Gewerkschaftsesel, und dass du am Amazonas schnell vorankommst, kannst du selbst mit einem Spezialboot angesichts all der Lianen, Algen und Äste knicken. Immerhin drückt das Boot zu Wasser und zu Land einiges an Wildwuchs weg bzw. walzt sich darüber; den Rest der Natur musst du selbst mit Buschmesser und Axt besiegen. Dito die Schnaken und Mücken und all das mir namentliche nicht bekannte Ungeziefer, das mich gestochen, gebissen, ausgesaugt und eingekotet hat.
Was ich ziemlich krass von der Natur fand: Da wurde sie vom Konzern Texaco brutalst vergewaltigt, das Paradies aus jahrhundertealten Riesenbäumen, Dickicht, Pflanzenwirrwarr, Großwild, Paradiesvögeln, Affen, Kreuchtieren und Wurzelwerk zugemüllt mit dem Giftigsten, was der Planet zu bieten hat. Wo sie den Dschungel umgenietet und die dickschwarze Schlicke hochgepumpt haben, sieht es schlimmer aus als nach dem Krieg. Aber die Natur, sag ich dir, die kennt da nichts, kein lamentieren, kein nachtragen, die wuchert zurück, als gäbe es kein Morgen.
Die Indios weinen fast, wenn man sie auf das Erdöl anspricht, aber sie kooperieren weiter mit der sterbenden Natur. Ich hatte mir den Oberarm ellenlang an einem messerscharfen Gras geöffnet, da meinte unser Boots-Indio Julio oder Sergio oder wie er hieß „kein Problem“, schlitzte einen Drachenbaum auf, ließ dessen rotes Harz in ein Bananenblatt laufen, verband mein Bein mit Drachenblut und dem Blatt, und die Wunde schloss sich - nicht unter höllischem Schmerz wie bei Jod, sondern unter purem Wohlgefallen. Kein Wunder, dass die Pharmaindustrie bereit ist, selbst das hinterletzte Unkraut hier unter Patent zu nehmen.
Ansonsten: das Essen direkt vom Buffet der Natur, Turbobräunersonne, Regen wie ein Wolkenbad und ein Konzert der Natur, gegen das auch hundert Stradivaris komplett abschmieren. Summa summarum: vier Wochen „Dschungelkreuzfahrt“ sind besser als vier Tage Stadtdschungel. Sollten Sie unbedingt machen, ehe es die TUI anbietet.
Binnenkreuzfahrt-Schiff mit Retrocharme in Odessa (Ukraine)