Dunkelreisen

16.08.2015 16:18


Ein dunkler Trend wirft seine Schatten auf die Gesellschaft. Menschen kleiden sich in Schwarz, damit sie einander weniger sehen müssen. Um dies gleich für Tausende ihrer zu bewerkstelligen, treffen sich die Nachtmenschen jährlich zum Wave-Gothik-Traurigsein in Leipzig. Wo immer sie sind, sie hegen dunkle Gedanken, träumen von der unendlichen Schwärze des Schattenreiches und hören "Mugge" - Musik dunkler Qualität. Selbst Fans des seichten Schlagers machen mit und kaufen millionenfach inverse Wohlfühlmusik, Schlager mit dunklem Schmelz, Lieder, in denen sich "Herz" auf "Hertz" reimt. Diese Menschen pflegen finsteren Umgang und wünschen sich Düsteres. Besonders schwarzgesellig sind sie beim Essen - in sog. Dunkelrestaurants. Der Partner erscheint in photonenfreiem Licht, das Visuelle steht beim Candel-dark-Dinner den Flirtblicken nicht mehr im Wege.
Damit die Gruftmenschen nicht nur ein paar Stunden, sondern die ganze schönste Zeit des Jahres, die Ferien, in Dunkelheit verbringen können, bieten erste findige Reisebüros Dunkelreisen an. Unser depressiver Mitarbeiter Udo H. (45, gelernter Optikermeister aus Finsterwalde in Dunkeldeutschland) war für uns im Schwarzurlaub und hat die Schattenseiten seiner Reise zusammengetragen.

 

Für die Dunkelheit bei der Anreise musste ich selbst sorgen: schon um 4:30h aufstehen, um kein Tageslicht (Sonnenaufgang: 5:20h) abzubekommen, dann die Kontaktlinsen rein (Kunstlicht, so dachte ich, sei hierzu ausnahmsweise erlaubt) und die Schlafbrille auf. Meine Frau führte mich runter auf die Straße, das Taxi brachte mich zum Flughafen. Dort glücklicherweise kein langes Blinde-Kuh-Spiel, denn die Reiseleiterin hat mich gleich nach zehn Minuten im Dunkeln Tappen an die Hand genommen. Schon im Flugzeug gemerkt, dass ich die Kontaktlinsen gar nicht brauchte! Dafür hätte ich aber auch das Buch über schwarze Löcher nicht mitnehmen müssen.

Nun ja, doch bereits nach der Landung im unbekannten Land löste sich alles in Wohlgefallen auf: blind date mit Anfassen zum Kennenlernen. Es fühlte sich gut an mit den Mitreisenden, ihre Körper rochen nach dunkler Kanalisation. Und den ganzen Urlaub lang kein ernüchternder Anblick nach alkoholgeschwängertem ONS und keine unehrlich zu beantwortenden Fragen nach einem Wiedersehen. Dafür permanent Witze über Nachtschattengewächse und Höhlenmenschen. Tagsüber oder nachts, keine Ahnung, audiovisuelles sightseeing, Kaffeefahrten mit Hörproben von Staubsaugern und Laubbläsern, Ausgehen ohne grelles Licht, Nebelscheinwerfer, Lichtorgeln etc. Bei den Mahlzeiten brauchte das Auge nicht mitzuessen, und ohne zu sehen ist's egal, was Du Dir in den Rachen schiebst - d.h. in unserem Fall: schieben lässt. Vitamin-D-Mangel konnte laut Reiseleiterin dank der täglichen Portion schwarzen Aals verhindert werden.

Ihre Stimmen hörte ich abwechselnd in meinem Bett. Insgesamt zählte ich neunmal Sex mit fünf bis sieben verschiedenen Frauen - plus Dunkelziffer. Ohne voriges Aufplustern, Fitnesstraining, Bestrahlungslampe (!), vor dem Spiegel stehen, versteht sich. Gut, unserer Reisegruppe (Größe ungeklärt) ist einige Unterhaltungs-Elektronik verlustig gegangen. Aber wenigstens brauchst du unter diesen Umständen nicht erst mit Suchen anzufangen. Verdunkelungsgefahr besteht eh keine, lach, weil hier eh niemand mit der Aufklärung eines Eigentumsdelikts rechnet. Auch hygienisch war es eine Win-win-Situation für Urlaubsnehmer und -geber: Schmutz, Müll und Sauereien entziehen sich dem Auge, und alle Orte waren mit Duftdesign ausgestattet. So beschwert sich keiner, und niemand braucht sich mit Klagen zu befassen. Die allgemeinen Geschäftsbedingungen gewährleisten komplette Lichtfreiheit.

Summa summarum: Die lange Nacht des Urlaubs ist die längste Nacht ever. Laut Datumsanzeige im Smartphone war ich pünktlich nach zwei Wochen zurück. Nur musste ich bei der Ankunft schmerzhaft erleben, wie unangenehm Licht eigentlich ist. Diese Erkenntnis liefert dir freilich erst eine Dunkelreise. Meinen Ruhestand will ich mal in einem Darkressort verbringen, das weiß ich jetzt schon. Danach freue ich mich auf die ewige Finsternis.

 

Diese Touristen mussten wegen schweren Regelverstoßes (weiße Hemden, rechts unten) ihren Dunkelurlaub vorzeitig beenden.