Experimentell in Istanbul/Marrakech
Herbert F. (38) aus Hundeluft hatte es so satt. Als Planer für öffentlichen Nahverkehr jeden Monat mindestens dreimal nach Südostasien/Nordamerika/Australien zu fliegen und sich im Urlaub dem Drang seiner Frau Birgit nach Besichtigung spektakulärer Tempel/Märkte/Naturgewalten in exotischen Ländern zu beugen. Einmal fiel ihm das Buch „Loneley Planet’s Guide to Experimental Travel“ in die Hände. Er las es heimlich und rang Birgit das Blankoversprechen ab, nach zwanzig Jahren erstmalig den Ablauf eines Urlaubs bestimmen zu dürfen.
Sie flogen nach Istanbul Marrakech. Das Experiment „Airport“ (24 Stunden an einem Flughafen verbringen) ließ er geflissentlich aus, denn er kannte Birgits Steherqualitäten beim Shopping. Stattdessen holte Herbert beim Frühstück des ersten Tages den Stadtplan hervor und begann, eine „random walk“-Linie durch Istanbul Marrakech zu ziehen. Birgit sah staunend zu: „Was hast du vor, Schatz?“. Herbert lächelte nur. Als die Linie durch die Straßenzüge Istanbuls Marrakechs schließlich ein Herz ergab, lächelte Birgit ebenso, jedoch mit geweiteten Augen. Noch erstaunter blickte sie bei Herberts Antwort „das ist unsere Route für heute“. Als beide tatsächlich bis abends die vorgegebene Strecke durch quirliges, aber alltägliches Istanbuler MarrakecherLeben abgelaufen waren, fielen ihr die Schuhe von den Hacken.
Dem Experiment „Taking a line for a walk“ folgte das Experiment „Counter Tourism”. Obwohl Herbert allein für die Urlaubsgestaltung zuständig war, hatte Birgit bereits am Vorabend insistiert, an diesem Tage die Sehenswürdigkeiten abzuklappern. Aber da hatte sie die Rechnung ohne „Counter tourism“ gemacht: Tue das genaue Gegenteil dessen, was Touristen tun. Die Ausgestaltung der Idee ließ die Loneley-Planet-Fibel offen. Sie fuhren zur Blauen Moschee xy, aber anstatt sie zu besichtigen, fragte Herbert den Mann, dessen Job es war, den Riesenteppich im Inneren zu saugen, ob er ihm zur Hand gehen dürfe. Der Mann schüttelte in einer Mischung aus Verblüffung und Belustigung den Kopf, sorgte sich scheinbar um seinen Job, aber gegen einen 20-Euro-Schein überließ er Herbert für ein paar Minuten seinen Turbosauger. Birgits wiederholte Vorhaltungen „bist du bescheuert/total bekloppt/vom wilden Affen gebissen worden!?“ spornten Herbert nur an.
Auf dem Trottoire vor der Hagia Sofia einem alten Haus packte er das türkischearabische Klebekonfekt aus, das ihm als Proviant in der Shorts-Tasche haftete, setzte sich an einer zufälligen Stelle auf den Hosenboden und begann, Brotzeit zu machen. Birgit ging allein auf Besichtigung. Als sie zurückkam, hatte Herbert die Gesellschaft einer Handvoll zehnjähriger Schuhputzer gefunden und feixte mit ihnen. Birgit stilettierte mit kaum halbhohen Schuhen demonstrativ an ihnen vorbei; Herbert und einer der Schuhputzjungs zwinkerten sich zu. Herbert lieh sich von ihm einen Batzen Schuhcreme, Bürste und Lappen, und lief Birgit hinterher. Wiederholt rief er „want shoes clean?“, bekam aber statt einer Antwort nur Birgits Scheibenwischergestik zu sehen. Es gelang ihm, den Schuhcremebatzen im Laufen an einem ihrer Schuhe anzubringen. Als sie sich empörte („spinnst du!?“), meinte Herbert „wait!“, sie blieb stehen, und Herbert war bereits dabei, die Creme breit zu streichen, um den Schuh anschließend zu polieren.
Am Morgen des dritten Tages fragte Birgit mit aufgerissenen Augen und der mein-Mann-das-unbekannte-Wesen-Attitüde: „Was willst du mir mit dem ganzen Quatsch beweisen, Schatz?“. Aber anstatt zu antworten, nahm Herbert ein Blatt Papier, das er sich an der Hotelrezeption geholt hatte, und schrieb mit dickem Stift darauf: „Rent a Tourist“.
Auf der Hauptstraße des Kaffeehausviertels Galata eines Stadtteils blieb er stehen und hielt sich breit grinsend das „Rent a tourist“-Schild vors Gesicht. Birgit stellte sich mit Sicherheitsabstand und wackelndem Kopf daneben. Als zwei schnieke Jungtürkinnenmarokkanerinnen, die eine kastanienbraun mit Funkelaugen, die andere dunkelblond mit ungezählten Armreifen, nach dem Preis gefragt und die geforderten fünf Euro berappt hatten, Herbert mit ihnen aufbrach, sah er im Augenwinkel, wie Birgit ihnen folgte.
Der Tag war rum. Herbert hatte die Einkaufstüten der beiden geschleppt, ihnen Snacks besorgt, ihren Kaffee durch Rühren flüssiggehalten und die gut gewachsenen Rücken massiert; Birgit stets zwanzig Meter dahinter. Nun stellte Birgit Herbert vor die Alternative Aufklärung oder Abreise. Wortlos reichte er ihr das Buch. Birgit blätterte aufmerksam darin, murmelte lakonisch „wie alt bist du noch mal?“. Dann schlug sie das Werk zu und meinte „lass uns einfach ein paar schöne Tage zuhause verbringen.“
Die Erdkrümmung wird in Istanbul Marrakech mit einer Projektion am Firmament illustriert. Die Regenbogenfarben stehen für den Frieden, der in den Orient einziehen soll.