Tschernobyl

24.11.2013 11:09

Edith (54) aus Lieberhausen, Creative Directorin in einer Seitensprungagentur:

Es mag für Sie makaber klingen, aber ich lerne am meisten, wenn ich an extreme Orte reise, wo die menschliche Zivilisation auf Umstände geprallt ist, die sie völlig aus der Spur geworfen hat. Da gilt nichts mehr von all den Gewohnheiten und Routinen, die einen durchs Leben bringen, da geht’s nur ums nackte Überleben, und genau da zeigt sich die wahre Natur des Menschen. Dabei interessieren mich aber so gut dokumentierte Orte wie Pompeji, Waterloo oder Auschwitz nicht besonders; die Lebendigkeit des Umbruchs muss noch spürbar sein.

Tschernobyl, das interessiert mich, eine Katastrophe aus heiterem Himmel, sozusagen, wo die nukleare Strahlung quasi als Wolke über die Menschen gekommen ist. Gut, die Anreise im Bus von Kiew aus ist wie bei jedem x-beliebigem Ausflug, und sie erzählen Ihnen allerhand vom Pferd. Aber Prypjat, die im Jahr 1986 Hals über Kopf verlassene 49.000-Einwohner-Stadt ist klasse: Man spaziert durch sozialistische Behörden, Schulen, Kindergärten, ein Kino, ein Schwimmbad, sogar durch einen Kulturpalast, und alles ist komplett ausgestattet mit einer Detailliebe, wie sie nur das Leben selbst hervorbringt. Anders als in einem DDR-Museum ist in Prypjat nichts aufgeräumt oder inszeniert. Dafür bröckeln und morschen die Gebäude lebendig dahin, und für Romantiker gibt es ein Riesenrad, das sich erhaben hinter der Geisterstadt erhebt. Der Vergnügungspark außenrum sollte vier Tage nach dem Datum der Katastrophe eröffnet werden. Welch Werk des Weltgeistes!

Auch die Dörfchen außenrum: hinreißend, zuckersüß, zum niederknien: ein Bauernmuseum, das weltvergessen zuwuchert und Babuschkas aus Fleisch und Blut! Beeindruckend auch der Autofriedhof, dabei ist der Name irreführend, da okzidieren nämlich auch halbgeschmolzene LKW, Hubschrauber, Kranken- und Feuerwehrfahrzeuge. Nur einsteigen kann man leider nicht wegen der Strahlung.

Gut, der Reaktor vier ist jetzt kein so Highlight, den kennt man aus dem Fernsehen und real sieht man ihn nur aus 500 Metern von einem Aussichtshügel aus.  Die Wucht der Strahlung muss man komplett imaginieren, die würde man ja gar nicht spüren.

Ich weiß noch genau, wie 1986 all die Schlaumeier gesagt haben: „Tschernobyl ist überall!“. Das Gegenteil ist richtig: Tschernobyl ist nur in Tschernobyl! Mag sein, vielleicht noch in Fukushima, da aber dort wahrscheinlich anders, asiatischer, buddhistischer, maritimer.

Das Allerbeste: Die ganze Sperrzone um Tschernobyl gleicht einem Biotop sondersgleichen. Wie sich die Natur ohne den Menschen erholt hat und sogar eine, sozusagen seit Menschengedenken, nie gekannte Artenvielfalt hervorgebracht hat, da schmilzt Ihnen die Iris weg. Also, wenn Sie mich fragen: Der Mensch kann der Erde nichts Besseres antun, als sich selbst atomar wegzusprengen. Wenn er's nicht komplett tut, kommt am Ende vielleicht ein besserer Mensch heraus. Mal sehen, was aus den verstrahlten Babuschkas wird.